Die Geschichte der Dresdner Waldorfschule
Von der Gründung der Schule bis zum Verbot (1929-1941)
»Unser Kind ist immer so ungern zur Schule gegangen. Und jetzt freut es sich auf den Unterricht. Wie kommt das?« »Das kommt von der Waldorfpädagogik.«
So antwortete 1925 Elisabeth Klein dem Regierungsrat Chrambach, dessen Tochter – durch einen Verkehrsunfall behindert – sie zu unterrichten begonnen hatte. Infolge des Unterrichtes und des damit verbundenen wachsenden Interesses hielt die Lehrerin Vorträge, durch welche sich ein Elternkreis bildete.
Nun waren Unterrichtsräume und die Schulgenehmigung zu beantragen. Elisabeth Klein berichtete, wie zuerst die Wohnräume der eigenen Familie genutzt wurden, bis die Stadt schließlich ein Gebäude anbot: »In einem großen Park lag in der Jägerstraße das Pestalozzistift, in dem eben eine Schokoladenfabrik in Konkurs gegangen war. Die Stadt bot es uns an, da sie keine Verwendung dafür hatte. Wir nahmen an. Welches Glück für die Kinder, die dafür sorgten, dass die restliche Schokolade aus den Räumen verschwand. Wir zogen ein und sind dort bis zur Schließung der Schule (1941) geblieben.«
Diese Schule, über deren Anfangszeit durch gute Zusammenarbeit der Lehrer und Eltern mit den Kindern ein besonderer Glanz lag, wurde mit dem Anbruch des Nationalsozialismus nach vierjährigem Bestehen erstmalig verboten. Es ist dem besonderen Einsatz von Frau Dr. Klein zu danken, dass die Schule durch Verhandlungen weiter bestehen konnte. Als 1938 die Stuttgarter Mutterschule geschlossen wurde, konnte sie mutig ein Fortbestehen der Dresdner Schule, deren Schülerzahl auf etwa 800 gewachsen war, erwirken.
Bestätigt wurde Frau Dr. Klein durch den Schweizer Dichter und Vorsitzenden der Anthroposophischen Gesellschaft, Albert Steffen, den sie fragte: »Sollen wir jetzt nicht doch, nach dem Schließen der Waldorfschule in Stuttgart, alle Waldorfschulen schließen?« »Vor der Geschichte muss stehen, dass der Nationalsozialismus die Waldorfschulen geschlossen hat.« Frau Dr. Klein: »Dann werden wir aber alle im Gefängnis landen.« Albert Steffen: »Das macht nichts. Es wird auch heute noch Engel geben, die Sie aus den Gefängnissen herausführen.«
1941, mit der Schließung der Dresdner Schule, wurde Frau Dr. Klein, Mutter von vier Kindern im Alter von drei bis vierzehn Jahren, inhaftiert. Ein Platz im Konzentrationslager wurde ihr angedroht. In der Zeit der Gefangenschaft stärkten sie Erlebnisse aus der Schule, so ein Ereignis kurz vor der Schließung, als Kultusminister Göpfert eine Besichtigung vornahm. Er fragte ein Mädchen, das von der Staats- auf die Waldorfschule gewechselt hatte, nach dem Unterschied zwischen beiden Schulen. Das Mädchen errötete nicht und erblasste nicht, sondern sagte ganz ruhig: »Ich habe hier erst die Ehrfurcht gelernt.«
(Oktober 1945 – August 1949)
In einem erhalten gebliebenen Flügel des ehemaligen Pestalozzistiftes in der Jägerstraße wurde Raum geschaffen, in dem sich die aufs Neue schicksalhaft Versammelten zu emsiger pädagogischer Vorbereitungsarbeit zusammen fanden. Mühsam wurde aus dem Schulgebäude das Notwendigste wieder in Gang gebracht. Über diese Zeit des Neubeginns nach dem Zweiten Weltkrieg geben Berichte ehemaliger Schüler und Erinnerungen der damaligen Lehrer einen guten Einblick. Deutlich wird dabei die Härte des Neuanfangs, aber auch die Motivation der Lehrer, neue Ziele, Ideale und Hoffnungen bei den oft traumatisierten Schülern zu wecken: »Aus Trümmerstücken buddelten wir brauchbare Bänke heraus, klopften Ziegel, bildeten Menschenketten zum Transport. Wir rahmten Bilder zu Hause aus, um Glas für kaputte Fensterscheiben zu nutzen. In diesem ersten Winter hatten wir noch keine genügende Heizung und zu wenig Schulbänke. Ich erinnere mich, wie wir stehend in den Klassenzimmern, im Mantel, mit Mützen und Handschuhen, Unterricht bekamen – und uns am Unterricht erwärmten, den unser Lehrer so begeistert vortrug, dass wir die äußere Kälte vergaßen.« (Charlotte Stiehm, Schülerin)
»Unsere Klasse liebte unsere Klassenlehrerin über alles. Sie trug uns die Odyssee aus Griechenland so lebendig vor, dass ich bis heute innerlich Bilder, wie zum Beispiel den Saal, wo Penelope auf Odysseus wartete, vor mir sehe. Wir konnten den nächsten Schultag kaum erwarten, so sehr freuten wir uns darauf! Sie hatte uns durch ihre Begeisterung an wahre Idealbilder der Menschheit herangeführt, wir brauchten keinen billigen Ersatz. Leider mussten wir diese geliebte Lehrerin hergeben, Krankheit, welche zum Tode führte, nahm sie uns. Sie verabschiedete sich von ihrem Krankenlager, einige Tage vor ihrem Tod, bei vollwachem Bewusstsein von jedem von uns und stärkte uns, im Vertrauen auf eine höhere Welt, noch über ihren Tod hinaus. Sie hat uns kriegsgeschädigten Kindern das Vertrauen auf das Gute, Wahre und Schöne im Menschen durch ihr leuchtendes Vorbild zurückgeschenkt.« (Veronika Ott, Schülerin)
»Aus der Umgebung, vom Alaunplatz, von der Prießnitz strömten Eltern mit ihren Kindern herbei; es waren neben früheren Eltern jetzt die einfachen Arbeiterfamilien, die sich für diese Schule einsetzten. Jeder Einzelne wurde befragt, wie viel er trotz Schulgeldfreiheit zu den Unkosten des künstlerischen Unterrichtes, der Musik, des Malens, der Eurythmie beitragen wolle – und das taten sie nach Vermögen. Mit starkem Lerneifer kamen die Kinder in die Klassen; mit innerster Anteilnahme verfolgten Mütter und Väter die ihnen oft ungewohnte Tätigkeit ihrer Kinder. Öffentliche Monatsfeiern und Aufführungen zum Beispiel im düsteren Gemeindesaal an der Prießnitz waren eifrig besucht. Auch Lehrer strebten von allen Seiten herbei, zum Teil ehemalige Schüler, auch Künstler von der zerstörten Oper. Es ist schwer, den Eindruck zu vermitteln, der im immer größer werdenden Kollegium herrschte: Eine Einsatzkraft für ein neues Schulleben entwickelte sich aus den besten Kräften seelischer Willensentfaltung heraus.« (Hans Jakobi, Lehrer)
So wuchs die Schülerzahl bis 1949 auf über eintausend an. Die Dresdner Schule als damals zweitgrößte Waldorfschule Deutschlands blühte als lebensvolles geistig-kulturelles Zentrum auf. Die in den ersten zwei bis drei Jahren des Wiederaufbaus noch in ziemlichem Umfang vorhandene geistige Freiheit und Toleranz wurde ab 1948/49 immer stärker eingeschnürt. Gegen die kindorientierte Pädagogik Rudolf Steiners wurde brutal, mit eindeutig stalinistischen Methoden vorgegangen: »Der Grundsatz der Schule, Pädagogik vom Kinde aus aufzubauen, ist falsch. Sie muss von der Gesellschaft aus aufbauen« (SED-Mitgliederelternversammlung am 9. September 1949 im Kreisleitungsgebäude der SED, Zitat von Herrn Weigel, Schularzt). Der damalige vom Kollegium berufene Schulleiter Gerhard Ott berichtete, wie ihm ohne vorherige Anhörung am 28. August 1949 vom zuständigen Schulrat unter Beisein von zwei SED-Vertretern im Parteibüro im Hochhaus am Albertplatz die Schließung der Schule mitgeteilt wurde: Die Pädagogik Rudolf Steiners sei für die weitere Entwicklung der Pädagogik der Ostzone nicht mehr tragbar, da diese keinen klassenkämpferischen Charakter trage und es darauf jetzt einzig und allein ankomme.
Die Ausrichtung des Schulwesens nach rein marxistisch-leninistischen Grundsätzen sei jetzt unbedingte Forderung und darin habe die Schule versagt. Die geringe Zahl der »Jungen Pioniere« von insgesamt 50 zeige deutlich, dass die Schule auf politischem Gebiet ihre Aufgabe nicht erfüllt habe. Diesen Tatsachen gegenüber würden auch die zweifellos entstandenen pädagogisch anerkennenswerten Leistungen nicht mehr ins Gewicht fallen. Gerhard Ott durfte sich von seinen Schülern nicht verabschieden und die Schule nicht mehr betreten. Auch gegen die betroffenen, empörten Eltern wurden Angriffe gestartet. Dem Vertrauensmann der Elternschaft, Professor Bockemühl, Konstrukteur des »Hechtwagens« und Direktor der Dresdner Straßenbahn, wurde die Bemerkung angelastet, man solle »Kinder nicht durch Hass zum Krieg, sondern zur Liebe zum Frieden erziehen.« Diese Friedensliebe wurde als Pazifismus abgelehnt und stehe im Gegensatz zum Klassenkampf. Bockemühl sollte gezwungen werden, auf einer kommenden Elternversammlung ausdrücklich die Richtigkeit der SED-Auffassung zu bestätigen. Professor Bockemühl, Gerhard Ott und einige engagierte Lehrer wurden so zur inneren Emigration gezwungen und verließen Dresden. Für den 19. September 1949 war eine Elternversammlung einberufen worden mit dem Ziel, den Eltern von der Umgruppierung der Schule Kenntnis zu geben.
Der folgende, gekürzte Bericht zeigt, wie Machtstrukturen ein freies Schulwesen knebelten:
»War früher jede politische Tendenz vermieden, so zeigte sich heute die Neugestaltung schon darin, dass auf dem Podium ein langer Tisch stand, unordentlich mit einer roten Flagge bedeckt. Gab schon die rote Flagge der Versammlung eine provokatorische Stimmung, so wurde dies noch unterstrichen, als die Versammlungsleitung Platz nahm und nur aus Mitgliedern der SED bestand. […] Der Verlauf der Versammlung, der sich nun abspielte, war ein so theatralischer, dass es schwer ist, ihn objektiv ganz zu erfassen und darzustellen. Das, was Stadtrat Schlotterbeck ausführte, die Argumente, die dazu geführt hätten, die Schule umzugruppieren, brachte so spontane Gegenrufe der Elternschaft hervor, dass an einem ordnungsgemäßen Verlauf der Sitzung zu zweifeln war. Die Anwürfe, die gegen die alte Schule gebracht wurden, waren so einseitig und in ihrer Grundhaltung so verdreht und entstellt, dass sie die Elternschaft von vornherein einschüchtern und mürbe machen sollten. […] Im Verlauf der Versammlung wollten empörte Eltern den Raum verlassen. Herr Schlotterbeck hatte die größte Mühe, die Versammlung zusammenzuhalten. In diesem Augenblick größter Spannung gab es eine neue Überraschung. Ein junger Mann, der früher Schüler der Schule war, stürzte erregt durch die Saalmitte auf das Podium zu und berichtete, wie er am Saalausgang von einem Polizisten in Zivil gestellt wurde und die Ausweispapiere hergeben musste. Durch diesen Zwischenfall wurde offenkundig, dass die Versammlung unter polizeilicher Bewachung stand, was den Akteuren äußerst peinlich wurde. […] In den Nischen hinter der Tribüne tauchten noch weitere Gesichter auf, so dass die Ausführungen des Herrn Kreisleiters der SED eine besondere Unterbauung bekamen. » (Niederschrift von Fritz Steudtner, Mitglied des Elternrates)
1949 wurde die Schule unter ähnlichen Umständen wie 1941 wegen mangelnden Gleichschritts mit dem herrschenden, diktatorischen System verboten. In der Ausschließlichkeit und der einheitlichen Ausrichtung vom Kindergarten bis zur Hochschule sowie der Überprüfung der Unbedenklichkeit leitender Persönlichkeiten für das herrschende System u. a. finden sich Parallelen zur NS-Bildungspolitik. 41 Jahre sollte es dauern, bis die Möglichkeit freier, alternativer Schulkonzepte wieder gegeben und das Waldorfschulleben in Dresden erneut begonnen werden konnte.